Kurzgeschichten

ZWISCHENDECK

Den Traum vom Oberdeck, den nicht alle Reisende haben konnten, den die Oberdeckreisenden nicht träumten sondern lebten, wo hingegen die Zwischendeckreisenden diesen Traum immer wieder von neuem, trotz widrigster Umstände, hegten. Die Betten dicht gedrängt, hier schnarchte ein Nachbar, dort lösten Läuse Juckreiz aus – selbst an intimsten Körperregionen – auch der Hunger nach einer warmen Mahlzeit hinderte sie häufig, so waren sie doch überglücklich, wenn sich die Erinnerung an Bilder aus vergilbten Illustrierten einstellten, wo Männer in feinsten Maßanzügen in Begleitung ihrer herausgeputzten, lachenden Frauen und Kinder, Taschentuch winkend, auf dem Oberdeck die Einfahrt des Schiffes in den New Yorker Hafen begrüßten, vorbei an der Freiheitsstatue, und diese Träume eine zwielichtige Schönheit im Schmutz des Zwischendecks ermöglichte, ohne das sie die Statue der Freiheit sehen konnten, während ein Heizer die Gelegenheit nutzte, über verschlungene Gänge und Treppen, aus dem Inferno der Kesselräume in obere Decks zu fliehen, alsdann an entlegener Stelle, ohne Aufsicht und Publikum mit zittrigen Händen die Rehling umfasste und mit dem Mut der Verzweiflung in die Tiefe sprang, im ersten Moment nach dem Aufschlag auf das harte Wasser seine Glieder nicht mehr spürte, dann von der Ertrinkensangst angetrieben, mühsame, hektische, noch ungeschickte Schwimmbewegungen machte und um sein Leben kämpfend, von Gischt und Wellengang behindert, Liberty Island nicht sehen konnte.

Die Sonne durchbrach den bewölkten Himmel, beschien den um sein Leben kämpfenden Heizer, streifte auf dem Oberdeck die erste Klasse Passagiere, die den aufgeheiterten Himmel, wie selbstverständlich, ihnen zustehend, kaum wahrnahmen. Kurz blitzte die vergoldete Fackel der Statue of Liberty auf, was die Zwischendeckpassagiere aus den kleinen Lucken, sosehr sie sich darum drängten, nicht sehen konnten.

J. Lünenschloß, Februar 2017

AUFZUG DER HEERSCHAREN

So etwas hatte die Landbevölkerung lange nicht gesehen.

Schon kurz vor Sonnenaufgang, die ersten Frühaufsteher im Dorf sahen ungläubig aus dem Fenster, da blickten sie auf eine Karawane, die, wenn sie nicht so modern daherkäme, an die Truppen eines mittelalterlichen Ritters mitsamt seinem Gesinde oder an schon lange abgeschaffte, religiöse Prozessionen erinnern würde. Sie war zwar durch Flugblätter und Anschläge angekündigt, jetzt bewegte sie sich aber tatsächlich durch die viel zu enge Hauptstraße, was die ersten Neugierigen wie die Sensation einer Offenbarung aufnahmen. Vorne weg, ein nicht sehr großer Mann, der einen Tirolerhut mit Gamsbart trug, und offensichtlich – soweit zu sehen war – der Anführer sein mußte. Hinter ihm trug ein junger Mann einen beschrifteten Klappstuhl, dann folgten zwei Männer, einer trug einen schweren Apparat auf der Schulter – ein moderner Standartenträger -, dem eine jüngere Frau folgte, die ein Stativ trug, und ein Kabel, das von dem Gerätetragendem vor ihr herunterhing, mit einer freien Hand festhielt. Dieser wiederum folgten mehrere, scheinbar starke, schwarzgekleidete Männer und eine Frau, die große Lampen geschultert hatten. Dahinter ein Mann mit Dreitagebart, der einen Karren mit allerlei Gerätschaften vor sich herschob, begleitet von einem jüngeren, großen Kerl, der eine lange Angel trug, an der ein Kabel herunterhing. Es gab wohl auch Marketenderinnen, denn zunächst dem Angler folgten mehrere Frauen mit Kleidern über den Armen und Taschen in den Händen und einem Handwägelchen, auf dem noch mehr Ware zu sein schien. Doch wie sich bald herausstellte, konnte der Gamsbarttirolerhutträger nicht der wahre Anführer sein, denn jetzt kamen zuerst eine elegante Limousine, mit dunkel getönten Scheiben – die keinerlei Einblick ins Innere gestatteten -, die sicher eine höhergestellte Persönlichkeit chauffierte, dann ein Lieferwagen, gesteuert von einem verwegen aussehenden Mann, in Begleitung eines jüngeren, langsam im Troß fahrend, hinterher. Schwere Lastkraftwagen mit Besatzungen, eine Anzahl von verschiedenen kleinen bis größeren Automobilen folgten in stattlicher Zahl.
Der Aufzug machte im Dorf keinen Halt, sondern wanderte, wie angekündigt, schnurstracks durch es hindurch und nahm auf einer Anhöhe, auf der Wiese eines Bauern, betriebsame Aufstellung. Einige neugierige Kinder und alte Leute vom Dorfe, die hierher geeilt waren, wurden von eigens dafür abgestellten Mitstreitern der Horde, geschmückt und kenntlich gemacht durch rot leuchtende Warnwesten, auf Abstand gehalten. Doch konnten sie, durch die ihnen zugewiesene Entfernung und Lücken der Absperrung deutlich sehen, daß von dem Hutträger der Aufzug in einen Halbkreis befohlen und dirigiert wurde, sodaß dieser Fuhr- und Menschenpark mit der offenen Seite auf eine ausgedehnte Tiefebene ging.
Es gab von hier oben eine erhabene Aussicht, über der jetzt die Sonne aufging.
Jetzt war zu beobachten, daß nicht, wie zuerst vermutet werden konnte, der Hut-Dirigent die oberste Befehlsgewalt innehatte, denn ein kleiner, älterer Mann, leger gekleidet, mit einer Schirmmütze auf dem Kopf, entstieg der verdunkelten Limousine, woraufhin alle Anwesenden, insbesondere der scheinbare Spielleiter, sich diesem dienernd andienten. Der kleine Mann mußte sich anscheinend stärken, denn er ging, gefolgt von anderen des Gefolges, zu einem Lastkraftwagen, der eine fahrbare Küche geworden war, in der schon Speisen zubereitet wurden – zur Verwunderung der abständigen, neugierigen Dorfbewohner, denen sich zuerst verschämt, dann immer ungenierter, einige Männer hinzugesellt hatten. Der Duft der feinen Feldküche wehte zu ihnen herüber. So hatten sie zumindest den Geruch, wenn auch nicht den tatsächlichen Genuß – der ihnen nicht zuerkannt wurde, und unwillkürlich Appetit machte -, vor ihren Nasen, denn sehen konnten sie vom Gelage nur Undeutliches.
Bewegung kam in das mittlerweile schon größere Gedränge der Zuschauer, denn eine größere Karrosse, ein edles Automobil, durchfuhr jetzt ihre Reihen, wobei die Ordner mit den Warnwesten große Mühe hatten, die Dorfbewohner zurückzudrängen. Fast vor der Feldküche hielt der Wagen. Athletisch, aber in kontrollierten Bewegungen, stieg ein ebenfalls nicht sehr groß gewachsener, mittelalterlich wirkender, blonder Mann mit gepflegtem Schnauzbart und strahlend blauen Augen aus, während auf der gegenüberliegenden Seite eine zierliche Frau mit rot gefärbten Haaren und einem vielfach gelifteten Gesicht – das ihr schon höheres Alter kaschieren sollte -, entstieg. Sofort, schon bei der Ankunft der beiden, kam eine leichte Bewegung in die Versammelten, das, wie ein Zirkus, dann wieder wie ein militärischer Haufen sich gerierende Schlemmervolk, das mittlerweile an schnell aufgestellten Tischen und Bänken Platz genommen hatte. Jetzt war nicht mehr klar ersichtlich, ob der sich eilfertig von einer Bank erhebende Mann mit der Schirmmütze, der zuerst in überschwenglicher Art, wie zu stark gespielt, als ginge es um ein außerordentliches Wiedertreffen, mit einer Umarmung und in den hinteren Reihen nicht wahrnehmbaren Begrüßungsworten den blonden Schnurzbärtigen begrüßte, die Direktion innehatte und / oder dessen rothaarige Begleiterin, die er allerdings in sachlicherer Weise – was der Frau offensichtlich geziemte und diese wohl auch so erwartete – empfing, in diesem Aufzug, das imaginäre, schwer auszumachende Zepter innehatte. Das auf Abstand gehaltene Dorfvolk interessierte sich sehr dafür, konnte aber nicht ausmachen, wer im schwülstig-erhabenen Schauspiel, welches so sehr seine Aufmerksamkeit in Atem hielt, welche Rolle spielte, sodaß es gar ihren eigenen Hunger und den gesteigerten Appetit auf ein ebenbürtiges Schlemmerfrühstück vergaß.
Als schon den meisten Zuschauern langweilig wurde, etliche an ein Essen zu Hause, das zwar weniger üppig ausfallen würde, dachten, wurde es über der Szenerie laut, denn ein Helikopter näherte sich aus der Luft und landete in unmittelbarer Nähe auf der Wiese. Dieser wurde wohl vom kleinen Heer erwartet, denn sogleich bildete sich eine Begrüßungsgruppe, zuvorderst die kleine Rothaarige, dicht gefolgt vom Blonden, diesem der Schirmmützige – und, mit Abstand, der Tirolerhutkommandant. Eingeflogen war, wie es sich rasch, bis selbst in die hintersten Reihen herumsprach, die Kulturministerin – die wiederum, so schien es jetzt, eine noch größere Rolle spielte.

Noch Tage später, als die Dörfler im Gasthof Zum Goldenen Hahn über das Ereignis sprachen, sahen sie, in ihrer Erinnerung, in gebührlichem Abstand, den sie nicht mehr anzweifelten, wie die Ministerin mit den Hauptleuten des Aufzugs Champagner trank und die Herrschaften sich lebhaft zuprosteten, während darüber diskutiert wurde, wie anders doch die Großen dieser Welt seien. Sonderbar blieb, welcher Anlaß sie in diese abseitige Gegend geführt hatte, denn alles, was noch folgte war, daß sich die Versammlung vor der Kulisse der durchaus schönen Landschaft, angestrahlt von gleißenden Scheinwerfern, sich mit einer Filmkamera selber aufnehmen ließen, alsbald alle Gerätschaften verluden, und, wie ein traumhaftes Ereignis, welches nur wie in ihrer Phantasie stattgefunden hatte, wieder verschwunden waren.

Nur der Bauer, auf dessen Wiese die Heerscharen eingefallen waren, beklagte sich noch lange, das diese zertrampelt, durch schwere Fahrzeuge durchfurcht und beschädigt wurde und dadurch über lange Zeit der Wiesenmaht, der Produktion von Heu für seine vielköpfigen Kühe, fehlte.

J. Lünenschloß, April 2020

OAXACA

Er erwachte mit dem Wort “Gerber”. Sicher war, daß sein Erwachen verursacht wurde durch hohen, nicht mehr aushaltbaren Blasendruck. Das Sonnenlicht tat sein übriges. Es wurde Zeit, ohne daß er noch Zeit hatte zu wählen. Wahlfreiheit gab es nicht, außer der, sich einfach einzunässen. Aber dafür war es noch zu früh. Das konnte eventuell im hohen Alter kommen – zurück zu den Anfängen des Babyalters –, abhängig von äußerer Hilfe. Alles Angelernte übte noch seine Macht aus, was hier durchaus von Nutzen war.

Ganz sicher hatte er nichts im Zusammenhang mit dem Gerberhandwerk geträumt, wiewohl ihm nicht mehr erinnerlich war, was er geträumt, so hatte es nichts mit dem Begriff zu tun. Nicht aufklärbare Mysterien des erbarmungslosen, seelenlosen Gehirns…

Anders verhielt es sich mit anderen Erinnerungen, die ihm mal berichtenswert, andererseits wieder belanglos erschienen und nur als Ausdruck – der gewiß auch lächerlichen – Selbstbestätigung erscheinen mußten, die ihm aber mit zunehmendem Alter, vielleicht in Eintrübung des Denkvermögens, vielleicht mit der schon früh eingeübten, aushaltbaren Einsamkeit zusammenhing, die, so unabänderlich sie letztlich für jeden Menschen war, ihm nicht mehr so leichthin gelang. Die Erinnerung herüberzuretten in die letztlich uninteressierte Welt nach ihm, die damit nichts verband, wo andere Menschen schon jetzt dauerhaft damit nichts verbinden konnten oder unwilliges Desinteresse zeigten, sich in ihrer eigenen Einsamkeit stets einrichteten, was er ihnen nicht verübeln konnte, da sie ja gänzlich auch sein eigenes Leben bestimmte. Gleiches Recht für alle mußte unweigerlich hingenommen werden, wie auch daran nichts, aber auch gar nichts, zu ändern war.

Trotzdem befand er sich wiederholt in Tagesgedanken in der Erinnerung – woran wiederum nichts zu ändern war, und durchlebte alte Geschichten immer wiederkehrend, die er vor Jahrzehnten wahrscheinlich so erlebt hatte, soweit das Erinnern nicht trog – in teils nervtötender Weise als Wiederholungsschleifen -, und befand sich darin wieder am Hauptplatz von Oaxaca, der Stadt des gleichnamigen mexikanischen Bundeslands. Zuvor von New Orleans kommend, mit einem Billigflug in Mérida Yucatán gelandet, ohne ein einziges Wort Spanisch zu sprechen, unvorbereitet, nicht einmal ein Sprach-Wörterbuch mitführend, als einzige Lektüre gesammelte Erzählungen Franz Kafkas im Gepäck. Wurde er noch kurze Zeit vorher auf der New Yorker Canal Street von einem ausdauernd freundlichen Passanten kopfschüttelnd „a real Greenhorn“ genannt, nachdem es ihm nicht gelang, von diesem die Auskunft nach einem Weg – der Klassikerfrage aller Reisenden -, mit einem fürchterlichen Kauderwelsch in vermeintlich englischer Sprache zu erlangen, indem er sich zum Beispiel über die Bedeutung von Personalpronomen – die er wild durcheinandermixte -, nicht im klaren war; abgesehen von einem chaotischen, noch dazu marginalem Wortschatz, dieser wiederum begleitet von wilder, von seinem Gegenüber nicht entzifferbarer Gestik; so konnte er sich in Mexiko nicht einmal in Worten bedanken, noch bitten, sondern war auf eine stets zu Mißverständnissen führende Zeichensprache angewiesen, die von der ihm eigenen, nervösen Unbehaustheit herrührte, die schon im Heimatland ständig zu Mißverständnissen geführt hatte. Sechs Jahre Englischunterricht in der sogenannten Volksschule: Ein beispielhaftes Fiasko. Wie überhaupt fast die gesamte Schulzeit – die Erosion allen Denkens, die Verhinderung jeglicher Entwicklung. Ein pädagogisch, zuweilen verständnisselig daherkommender Drill, zur Einübung des funktionierenden Untertanen. Seine unkoordinierte Opposition dagegen…

Beruhte schon das Wort „Yucatán“ auf Mißverstehen, denn die spanischen Eroberer, die zuerst dort landeten und die indigene Maya- Bevölkerung nach dem Namen der Landschaft fragten und ihre Sprache nicht verstanden, bekamen eine Auskunft, die ganz sicher nicht die Region beschrieb – und wahrscheinlich nur besagte, daß sie die Spanier nicht verstanden -, eben so war er, ohne es zu wissen, noch es zu wollen- aber was hätte das auch schon daran geändert – in „spanischer Konquistadorentradition” auf Reisen.

Auf der Busfahrt von Mérida nach Oaxaca, neben einem Bauern sitzend, lernte er zuerst dessen Freundlichkeit kennen, denn dieser teilte mit ihm seinen Reiseproviant – in Palmenblättern eingewickelte Tortillas, und er erteilte ihm mit Deuten auf Bäume und andere Dinge, und ihrer wiederholten Benennung,  einen kleinen Spanisch- Unterricht. Einen sinnlich- lebendigen Sprachunterricht! Das hatten Lehrer nie bei ihm vermocht. Dieser Campesino ermöglichte es, nur aus verständnissinniger Sympathie.

Weit war er gereist, nur, um, in seinem Denken und der Macht des Angelernten beständig in Europa verhaftet, bei tropischer Hitze auf dem Bett im Hotel liegend, im Kafka- Sammelband zu lesen. Aber immerhin konnte er später feststellen, daß sein Aufenthalt in Mexiko ihm Kafka näher gebracht hatte, und  Kafka hatte, soviel war ihm klar, von Amerika mehr verstanden, als die meisten Nord- Amerikaner selbst, ohne daß er je dahin gefahren war. Sein sogenanntes „Amerika- Fragment“ zeigt es eindrücklich. Beschreibungen, die zugleich immer Zuschreibungen sind, können im übrigen gar nichts anderes sein, als fragmentarische Versuche, selbst wenn sie sich in der „Anmaßung“ eines mehrbändigen, sogenannten, oder tatsächlich großen Romans äußern, die das Publikum zuweilen in Staunen versetzt, das sich von der schieren Fülle überrumpeln läßt und etwas vermeintlich erschöpfend Großartiges – ohne es wirklich zu erfassen -, vor sich glaubt, sich geschlagen gibt in einer anbetungsgleichen Demut; das wenig lesende Publikum – welches in der Regel nur die Überschriften liest -, und sich letztlich in religiöser Verzückung ergeht.

Am Zócalo traf er eine Nord- Amerikanerin. Touristen aus dem Norden Amerikas bildeten zu der Zeit die Mehrzahl. Nur wenige Europäer waren dort anzutreffen- und wenn, dann waren es zumal Lehrerinnen oder seltener Lehrer, die das nötige Reisegeld für das seinerzeit noch “exotische” Ziel, und den Bildungshunger von Lehrerseminaren,  mitbrachten und selbstverständlich vielfach auf zu nichts verpflichtende Liebesabenteuer aus waren. Huldigungen nach Art der Landnehmer, die ein paar Jahrhunderte zuvor, vermeintlich in Indien, an Land gingen, und aus diesem Irrtum heraus die dort in Nord-Amerika schon lange ansässige Bevölkerung “Indianer” nannten.

Mit dieser Amerikanerin kam er ins, naturgemäß, stockende Gespräch. Beim Café an einem der vielen Straßenlokale erzählte sie von einem, wie sie vermeinte, äußerst liebenswürdigen älteren deutschen  Ehepaar, das sie kennengelernt hatte, und das abseits der Stadt auf einer Hazienda lebe und sich sehr über Besuch freuen würde, zumal er Deutscher sei. Er solle sie doch einmal besuchen. Sie beschrieb ihm den Weg über eine stadtauswärts führende Straße – einer Ausfallstraße in Richtung Nord-Ost, zum Haus des Paares in den Bergen. Zu Fuß, um mithin mehr zu sehen – und aus seiner grundlegenden Haltung,  sich nicht privilegiert zu gebärden, so wie er auch die Anreise nach Oaxaca in einem Bus der dritten Klasse mit Holzbänken unternahm, ging er neugierig, über Stunden, – wenn ihn seine Erinnerung nicht in die Irre führt, was selbstverständlich jederzeit sein konnte und auch tatsächlich oft genug geschah -, zu dem abgelegenen Haus der Leute, über eine, von der Hauptstraße wegführende, unbefestigte Piste. Angeschmiegt an einen Berghang lag das Anwesen. Rasen. Blumenbeete. Linkerhand ein Gärtner bei der Arbeit. Das Gelände leicht ansteigend und umzäunt. Das langgestreckte Gebäude gebaut im Winkel, mit ungleich langen Schenkeln. Kolonialstil mit nach innen, über die gesamte Hauslänge laufender, leicht erhöhter, hölzerner und überdachter Veranda. Langsam näherte er sich dem Ensemble, sah zur Linken auf der Veranda im Schaukelstuhl eine Gestalt, nahm zwei Treppenstufen herauf und stand der, wie es sich herausstellte, Hausherrin, einer sehr korpulenten, älteren Frau, die Zigarre rauchend, leicht dösend, auf dem Sitzmöbel saß, gegenüber. In der Tat sprach sie, nach seiner zuerst zögerlichen Ansprache,  Deutsch und schien erfreut. Schon lud sie ihn zu einem Getränk ins Haus. Dort, im Wohnzimmer,  rief sie, in offensichtlich gewohnheitsgemäßem  Befehlston, ihren Ehemann herbei, der sich in einem der vielen Räume aufhielt. Es kam ein schmächtiges, schüchtern- devotes, kleines Männlein – das – sicher schon von Kindesbeinen an erlernt -, einen leichten Diener machte, während es sich vorstellte und dem Besucher die Hand reichte. Wie bei alten Paaren oft zu beobachten, hatte sie das Sagen- und schien überhaupt seit langen Jahrzehnten Motor und Antrieb seines Seins, ohne den er nicht existieren konnte. Ein „Verdammter“, ein Anhängsel ihrer Ambitionen…

Es stellte sich heraus, das dieses Paar aus Alabama kam, wo sie bis zum Rentenalter gelebt hatten und jetzt hier, ausgestattet mit hoher Kaufkraft im Wechselkurs zum mexikanischen Peso – wie die Kleinfürsten -, ihren Lebensabend verbrachten. Und, – er war als Ingenieur schon beim V2- Raketenprogramm des Werner von Braun in Peenemünde dabeigewesen; der Mordgeschossproduktion der Nazis. Wohl im Jahr neunzehnhundertsechsundvierzig waren er und seine Frau, Teil einer etwa hundertachtundneunzig- köpfigen Gruppe, bestehend aus Technikern, Chemikern, Raketenantriebsspezialisten, Ingenieuren und so weiter, von den US-Amerikanern für ihre eigenen Rüstungsprojekte, zusammen mit Werner von Braun an ihrer Spitze, ins Land geholt worden – unbeschadet  ihrer Verstrickungen in die Verbrechen Nazi-Deutschlands.

Und siehe da, an ihrer chauvinistischen Haltung – der „Herrenmenschenhaltung“ nationalsozialistischer Provenienz -, hatte sich nichts geändert, als, zumal die Frau, – denn der Mann sagte nicht viel -, vom Leder zog und davon faselte, welche Wohltaten sie den Mexikanern – den Unterentwickelten, zuvor bitter Armen, die bei ihnen arbeiteten, angedeihen ließen. Dies alles in herablassender Weise. Kolonialstil. Herren und Knechte. So beschäftigten sie zwei Gärtner, eine Köchin und weiteres Personal, das zuvor noch auf nackten Fußböden geschlafen hatte, jetzt aber in den erheblichen Genuß echter Matratzen kam, dank ihres Einkommens – Dank – und Verdienst ihrer großmütigen Herrschaft…

Die Namen dieses Wohl- Täters und der Täterin hatte er sich nicht gemerkt und sich rasch wieder, angeekelt von dieser Begegnung, auf den Rückweg gemacht.

Der Rückweg schien länger als der Hinweg. Einesteils auf Müdigkeit zurückzuführen, andererseits sicher dem Umstand geschuldet, sich keinem Ziel zu nähern,  das seine Phantasie anregte, und natürlich die Leere in ihm, entstanden aus der Begegnung mit den tumben Altnazis, die ihn jäh  zurückverwies in die “Heimat”, aus der er nicht zuletzt deshalb abgereist war, um solchen Gestalten nicht, sondern anderen Menschen begegnen zu können. Er wurde zurückverwiesen auf die Geschichte, die, ob er wollte oder nicht, auch die seine war, auch ihn ihm virulent war. Räumliche Distanz konnte keine neue, eigene Realität erschaffen, wie unbewußt erhofft, sondern verstärkte die Müdigkeit – die doch oft eher einer Lebensmüdigkeit ähnelte -, vor der geschichtlichen Katastrophe, in die er eingebunden war.

Noch bevor  die Außenbezirke Oaxacas erreicht waren, wechselte die Bewölkung von sonnig- heiter, mit leicht über der Landschaft schwebenden weißen Wolken, zu einem veritablen Gewitterhimmel. Und das innerhalb kürzester Zeit, was in dieser Bergregion nichts Ungewöhnliches ist.

Er konnte sich nicht mehr deutlich erinnern – wobei in „deutlich“ schon die „Bedeutung“ mitschwingt, die im nachhinein, eine Begebenheit ausdeutend, diese objektiv verfälschend darzustellen bedeuten konnte – aus subjektiver Willkür -; jedenfalls, soviel stand fest, war es so, daß ein kleiner Truck anhielt, und der freundliche Fahrer ihn vor dem bereits unwetterartig tobenden Gewitter, das mit ungeheurer Gewalt niederging, errettete. Ob er diesen selbst gestoppt hatte – per Autostopp -, oder der Fahrer von sich aus hilfreich anhielt, war  nicht mehr zweifelsfrei zu entwirren, obschon es in diesem Fall unerheblich war, aber selbst solchen Unerheblichkeiten spürte er beständig, sich mißtrauend, nach.

Am Ortseingang gab es einen Stau. Bei nachlassendem Regen war durch die Windschutzscheibe zu sehen, daß zwei oder drei Wagen vor ihnen wohl unmittelbar zuvor ein Unfall geschehen war. Er öffnete die Wagentür, wollte nachsehen, ob gegebenenfalls erste Hilfe zu leisten wäre, denn darin hatte er eine Ausbildung gemacht. Der Fahrer indes bedrängte ihn vehement, nicht auszusteigen. Den Grund dafür erfuhr er erst später von anderen. Wie selbstverständlich gab er dennoch seinem Impuls nach, ging zum Unfallgeschehen, beugte sich über eine angefahrene Frau, die, so war es möglicherweise, einen Schädelbasisbruch erlitten hatte und blutend aus einem Mundwinkel im Schockzustand auf der nackten Teerstraße lag. Umstanden – mit einigem Abstand -, von Schaulustigen, die nicht so lustig waren, helfend einzugreifen, sondern ihn offensichtlich davon abhalten wollten, dies zu tun. Er hielt die Hand des Unfallopfers, mit der anderen leicht den Kopf berührend, diese zu beruhigen, schaute kurz zu den Umstehenden, sagte wohl das Wort Ambulanz – alles in allem hilflose Versuche. Es kam tatsächlich bald darauf eine Ambulanz, die wahrscheinlich nicht auf seine Initiative hin, sondern bereits zuvor gerufen worden war. Gestreßt verließ er den Ort. So schnell wie das Gewitter herankam, so schnell hatte es bereits wieder aufgehört, seine unglaublichen Wassermassen auszuschütten. Im Weggang erfuhr er noch soviel, soweit die Verständigungsschwierigkeiten dies erlaubten, was ihm später in einer Bar noch bestätigt wurde, daß er sehr unklug gehandelt habe, denn falls Angehörige des Unfallopfers dazu gekommen wären, hätten sie ihn als vermeintlichen Verursacher des Unglücks unter Umständen nach Landessitte gelyncht, oder doch zum wenigsten zusammengehauen.

Vom Tagesgeschehen angeschlagen, hatte er Lust – die sich aus der Unlust, einer verstärkten Verzweiflung ergab -, sich ein wenig zu betrinken, betrat eine Bar und trank ein paar Tequila…

Juni 2020, J. Lünenschloß

Gedichte

SUPERMARKT

Es öffnet … Kasse … öffnet … schließt … öffnet … schließt: erschießt …
Kasse 3 … Kasse 5 … Kasse 1 –
im Delirium durch die Gänge gestaut …
1. Klasse, 2. Klasse, 3. Klasse – wer greift in die Kasse!?
Schließt- und: erschießt …
Werte Kunden … die Schrunden, die Wunden – bald überwunden –
Genickschuß!
Wertsachen abzugeben … an Ausgang 2 …
Sonderangebote: Gebote, Gebote, Gebote …
das fünfte Gebot, laut Herodot – leider: Ausverkauft!
Im Tunnel … im Tunnel … im Tunnel … Blicke … Blicke … verwirrte Blicke; kein Blickhalt … keine Aussicht auf: Genickschußanlage!
Halt! Rationalisieren Sie jetzt!
Setzkästen … das schmucke Heim … kleine Einteilungen … Einteilungen … Einteilungen – greifen Sie zu!
An der Rampe: Auswählen, abzählen … abzählen, auswählen –
in Zweierreihen … Aufstellen!
Fahlgraues, regennaß-kaltes Novemberlicht –
durch die Schaufensterscheiben …
Jeder kauft für sich allein … ein … schöner Sterben – leicht gemacht!
Einreihen – nicht vorzeitig ausspeien … Erbrechen: ein Verbrechen –
scannen Sie sich ein … Rechnung folgt später!
Meldepflicht! … melden … melden … melden …: Meldepflicht!
Achtung! Achtung! Schnell! Schnell! Erschießungen jetzt an Kasse drei …

J. Lünenschloß, Januar 2021

JAGDSAISON

Hasen grasen;
Lämmer belämmert;
Füchse fuchsig;
Otter, wie immer: Auf der Hut –
tauchen ab –
sehr gut, auch für ihre Brut;
Herr-fraulich blüht der Löwenzahn –
der Zahn der Zeit, soweit die Zeit Zähne hat –
nagen auch an ihm;
Hörner blasen lustig laut zum Halali;
Hasen durchlöchert;
Kirchenglocken dröhnen –
das Lebendige zu verhöhnen;
Ostern heißt´s!
Hühner drücken Eier aus dem Gedärm;
Menschen machen ein Gelärm;
– ohne Erbarmen –
Amen.

9. April 2020, J. Lünenschloß